Finden auf der grossen Scheibe die Balance: die beiden Szenografinnen Nele Dechmann und Esther Kempf, die Co-Kuratorin Mirjam Bayerdörfer und Monica Vögele, Leiterin des Vögele Kultur Zentrums (v.l.)., Bild: Bild Hans-Ruedi Rüegsegger
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Vorstellung von Unabhängigkeit ist attraktiv – aber trügerisch
Medienartikel
19.11.2019

Fast ein bisschen unscheinbar sind die beiden Stühle, denen die beiden vorderen Beine fehlen, gleich am Eingang zur Ausstellung im Vögele Kultur Zentrum in Pfäffikon. Das Exponat darf zwar nicht ausprobiert werden, ein Foto zeigt aber, wie zwei Personen auf den Stühlen sitzen können, wenn sie denn einander unterstützen. Sie hängen einander mit den Beinen ein und haben so die Balance. Die eine Person ist von der anderen abhängig, gemeinsam schaffen sie es.

Oft unbewusst abhängig
«Sie haben schon einige Abhängigkeiten durchlaufen, bis Sie hier angekommen sind», begrüsste Monica Vögele, Leiterin des Vögele Kultur Zentrums in Pfäffikon, die Besucherinnen und Besucher an der Vorbesichtigung der Ausstellung am Freitag. «Der Wecker, die Kaffeemaschine, die pünktlich fahrende Eisenbahn. Wir sind uns dieser Abhängigkeiten oft nicht bewusst.» Viele Abhängigkeiten – beispielsweise vom Smartphone – würden aber auch kreiert. Monica Vögele betonte die positiven Aspekte von Abhängigkeiten. So basierten viele positive Aspekte des Zusammenlebens auf Abhängigkeitsverhältnissen. Familie und Freundschaften tragen zu einem grossen Teil zu Geborgenheit bei, ohne Vertrauen kann sich kein gesundes Selbstwertgefühl entwickeln. Eine solche soziale Abhängigkeit könne stärken und beflügeln.

«Freiheit macht süchtig»

Das Streben nach Freiheit und Unabhängigkeit ist aber omnipräsent. «Die Vorstellung von Unabhängigkeit ist attraktiv», sagte Mirjam Bayerdörfer, die zusammen mit Valerie Keller und der F+F Schule für Kunst und Design in Zürich die Ausstellung kuratiert hat. «Himmel, Weite, Ferienbilder, Freiheit – die Werbung suggeriert Unabhängigkeit. Aber letztlich soll ein Produkt verkauft werden», so Mirjam Bayerdörfer. «Freiheit macht süchtig», sagte Monica Vögele zum Plakat mit dem bekannten Marlboro-Man.

Negative Aspekte von Abhängigkeit negiert die Ausstellung nicht, zeigt auf, was damit im Hirn passiert, wenn sich Genuss und das sich damit einfindende Glücksgefühl wiederholen. Vom Genuss über den Rausch ist die Sucht nicht mehr weit. Mehr als

Alkohol und Drogen widmet sich die Ausstellung dem Konsum und warum man was kauft, sie zeigt die Abhängigkeiten von einem sozialen Umfeld auf, das einem vorgibt, was man tragen soll. Illustriert wird dies von einer Collage aus Modeheften und Pillen. Aber: Was passiert, wenn jemand sich unabhängig macht vom Mainstream, wenn jemand die Grenzen überschreitet, ein Mann ein Kleid trägt oder die Geigerin mit Baseballmütze ein Konzert gibt? Droht Ausgrenzung, Stigmatisierung oder entsteht ein neuer Trend?

Die Ausstellung im Vögele Kultur Zentrum regt einmal mehr zum Nachdenken an. Darüber, von wem oder wovon man abhängig ist und ob diese Abhängigkeiten einen einschränken, beflügeln oder schlicht nicht zu ändern sind: Pflegebedürftige sind nun mal von Betreuungspersonen abhängig.

Interessant sind auch die Arbeiten von Jugendlichen vom Berufs- und Bildungszentrum Pfäffikon in der Mezzanin zu Thema. Während der Ausstellung, die bis am 22. März dauert, werden diverse Veranstaltungen zum Thema angeboten. 

Ausstellungen
Öffentliche Veranstaltungen
Fotografie HF Kunst HF
abhängig? wer, wie, von wem oder wovon über Abhängigkeiten und wie sie uns formen
Eröffnungsführung
So. 17.11.2019, 15.00–16.00 Uhr
Ausstellung
17.11.2019–22.03.2020
​​​​​​​Vögele Kultur Zentrum, Gwattstrasse 14, 8808 Pfäffikon
Ein komplexes Netz aus Abhängigkeiten bestimmt unser sozial-gesellschaftliches Leben. Deren konkrete Wirkweisen lassen sich im Normalfall jedoch nur schwer greifen. Die Ausstellung macht es sich zur Aufgabe, im Alltag meist unsichtbare Wirkkomplexe sozial-gesellschaftlicher Abhängigkeiten beispielhaft sicht- und fassbar zu machen und den Gründen ihrer Unsichtbarkeit nachzuforschen.

Beteiligte Personen, Kollektive und mit Arbeiten von: Tonjaschja Adler, Ulf Aminde, Baggenstos/Rudolf, Magdalena Baranya, Peter Bichsel, Johanna Bossart, Pamela Castillo, Harun Farocki, Joshua Geiger, Harry Hachmeister, Hospiz der Faulheit, Insel Institut, Christoph und Wolfgang Lauenstein, Mickry 3, Yvonne Pispico | Judith Weidmann, Hannes Schmid, Gianluca Trifilo, Lidija Vuckovic, Allan Wexler, Ruedi Widmer und F+F Recherchegruppe

Mit Interviews von: Juri Auderset, Jacqueline Badran, Tamara Lewin, Mascha Madörin, Sarah Schilliger

Eine Ausstellung des Vögele Kultur Zentrums in Kooperation mit der F+F Schule für Kunst und Design. Kuratiert von Mirjam Bayerdörfer und Valerie Keller. Ein Projekt entwickelt im Team mit Esther Kempf und Nele Dechmann (Szenografie) sowie UFO, Ivan Becerro und Sam Linder (Grafik).